Eine Weihnachtsgeschichte

Der Streit um den Schlitten
(B.M.Britten)

Irgendwo im hohen Norden, dort wo die Tage viel kürzer sind als hierzulande, besonders aber im Winter fast immer Nacht herrscht, trug sich in der Weihnachtszeit diese bemerkenswerte, von der internationalen Presse aber weitgehend unbeachtete Begebenheit zu:

Noch hinzuweisen ist darauf, dass seit Jahrhunderten der Weihnachtsmann eben in dieser nördlichen Region zu Hause ist und von dort aus seine Bescherungszüge zu den Kindern dieser Welt unternimmt; aber das weiß ja heute eigentlich jeder.

Und selbstverständlich gilt es als wissenschaftlich nahezu bewiesen, dass sich der Weihnachtsmann zur Fortbewegung seines überdimensional großen Schlittens einer Heerschar von Rentieren bedient, die in der was weiß ich wievielten Generation das wunderliche Gefährt mal über Stock und Stein, mal durch den tiefen Schnee, mal gar durch die Lüfte ziehen. Letzteres dann, wenn die Weihnachtsgeschenke über den Schornstein zum Empfänger kommen sollen. Schließlich kann der Weihnachtsmann, der so viele Jahre auf dem Buckel hat wie sein weißer Bart lang ist, ja nicht auf jedes einzelne Haus hinaufklettern, da wäre auch der Hausarzt vor.

“Dieses Jahr muss sich endlich etwas ändern!”
Pana, jüngste und zugleich entschlossenste Tochter einer über zwölf Köpfe zählenden Familie, war rot im Gesicht. Ihre Backen waren aufgebläht und ihre Nüstern bebten vor Erregung. Ihre Zuhörer, eine mittlere Gruppe langmähniger und muskelbepackter Vierbeiner aus dem Geschlecht der Iquos, starrten Pana an.
Die Iquos, für alle die, die das nicht wissen, gehören einer Pferderasse an, die sich seit Alters her durch enorme Kälteunempfindlichkeit, eine überdurchschnittliche Ausdauer und eine schier unglaubliche Kraft auszeichnen.

Pana wiederholte ihren letzten Satz: “Es muss sich etwas ändern”, und dann fügte sie entschieden hinzu: “diese Weihnachten werden Pferde den Schlitten vom Weihnachtsmann ziehen, basta!”. Und um ihren Worten noch mehr Gewicht zu verleihen, stampfte sie mit dem rechten Vorderhuf in den Schnee.

Doch dieser eher undamenhaften Geste hätte es nicht bedurft. Wie ein Peitschenhieb war eben jene provokante Formulierung durch die Anwesenden hindurchgezuckt. Leises Raunen schwoll über lauteres Gemurmel zu einem stimmlichen Tumult an, der die ganze Brisanz des Themas widerspiegelte. “Jawohl, Recht hat sie” war dem Gewirr von erregten Stimmen zu entnehmen, aber auch “ungeheuerlich, diese Forderung” , dann wieder “Nieder mit der Vorherrschaft der Rentiere”.

Der Leser merkt jetzt, dass den oben beschriebenen Eigenschaften der Iquos noch hinzugefügt werden muss, dass sie als aufbrausende, streitbare, manche Experten sprechen auch von querulanten, Wesen ihrer Gattung gelten.

Pana fuhr in ihrer Rede fort: “Seit allen erdenklichen Zeiten spricht man bei den Menschen nur vom Weihnachtsmann und seinen Rentieren: In Büchern, in Filmen, in den Zeitungen. Ja sogar bis nach Hollywood hat es einer geschafft”. Damit spielte sie auf Rudolph, the red nosed reindeer an. “Gab es jemals ein Weihnachtspferd als Plüschtier?” “Nein” ertönte es unisono aus der Zuhörerschaft. “Und deshalb”, Pana schloss ihre Rede, “deshalb fordern wir vom Weihnachtsmann, dass ab sofort wir seinen Schlitten ziehen.”

Eine Petition wurde verfasst und dem Weihnachtsmann noch in der selben Nacht überbracht, mit der Aufforderung, sich zu einem für den nächsten Tag einberufenen Ausschuss einzufinden. Dass der Weihnachtsmann nicht besonders erfreut war, ausgerechnet in der “heißen Phase” seines Geschäfts mit derartigen Forderungen konfrontiert zu werden, kann man sich denken. Gleichwohl bewies er einmal mehr seine bekannte Gutmütigkeit und Zuverlässigkeit und eilte pünktlich zur anberaumten Sitzung.

Als der Weihnachtsmann schwitzend und außer Puste vor Pana stand, sie war natürlich die Vorsitzende des “Ausschusses zu Beseitigung der ungerechten Behandlung von Weihnachtspferden”, blitzte es triumphierend in ihren Augen. So jung wie sie war hatte sie doch allen gezeigt, zu welchen Aufgaben sie noch fähig und berufen sein würde. “Nun”, fragte sie den Weihnachtsmann forsch, “wie steht es um unsere Forderung?”.

“Also”, antwortete der Weihnachtsmann mit seiner tiefsten Stimme, die er im Repertoire hatte, “was willst Du genau, Pana?” Pana antwortete prompt: “Nicht nur ich, wir alle wollen ab sofort den Platz der Rentiere einnehmen und Deinen Schlitten ziehen.” Der Weihnachtsmann blickte in die Runde der versammelten Iquos, die sich beeilten, durch zustimmendes Kopfnicken Geschlossenheit zu zeigen. “Wir wollen berühmt werden, die Menschen sollen Bücher und Geschichten über die heroischen Taten der Weihnachtspferde schreiben, Kinder sollen uns als Plüschtiere unter dem Weihnachtsbaum finden und Lieder über uns singen”. Pana hatte sich jetzt in einen Rederausch hineingesteigert. “Außerdem fordern wir ein Mitspracherecht über die Beschaffung und die Verteilung der Weihnachtsgeschenke. Nur so können wir kontrollieren, dass wir Pferde an Weihnachten auch genügend Aufmerksamkeit erfahren”.

Einige Sekunden, Pana und den anderen Iquos erschien es wie eine Ewigkeit, herrschte absolute Stille. Der Weihnachtsmann schaute nocheinmal in die Runde und blickte dann Pana an. ” Es sei so, wie Ihr es verlangt. Willkommen als meine neuen Weihnachtspferde!” Die Stille hielt an. Damit hatte niemand gerechnet, nicht einmal Pana. Nach einer kurzen Weile der Verblüfftheit, jubelten die Ausschussmitglieder los, allen voran Pana, die von einigen Anwesenden kurzerhand auf die Schultern gehoben und in einer Triumphrunde durch den Saal getragen wurde.

“Ich habe”, fuhr der Weihnachtsmann in den Freudentaumel der Iquos fort, “zur Einweisung in Eure neue Aufgabe einen Berater mitgebracht, der Euch alles Notwendige erklären wird. Schließlich drängt die Zeit, in wenigen Tagen ist Weihnachten.” Als sich die Szenerie beruhigt hatte und alle wieder auf ihren Plätzen saßen, betrat ein alt und gebrechlich wirkendes Rentier den Saal. “Ich bin Jurma” flüsterte das Rentier, “ich bitte um Entschuldigung für meine heisere Stimme, aber die Kälte fordert ihren Tribut. Ich beglückwünsche Euch, verehrte Iquos; wir Rentiere freuen uns über Euch als Nachfolger, es hätte keine besseren und geeigneteren treffen können.” Die Runde blickte verunsichert fragend drein.

“Kaum einer meiner Kollegen”, fuhr Jurma fort, “fühlt sich in diesem Jahr der Herausforderung noch gewachsen. Unsere Kniegelenke sind verschlissen, die Hufe abgelaufen. Um unsere Gesundheit steht es schlecht. Viele haben Probleme mit dem Atmen, die kalte, mal feuchte, mal trockene Luft tut unseren Lungen nicht gut. Ihr müsst Euch natürlich von Eurem dicken Fell trennen….” “Von unserem Fell trennen?”.. wiederholte einer der Anwesenden, “unser Fell ist unser Markenzeichen!”. “Nun ja, es wird Euch dann zwar hier etwas kalt, bedenkt aber, dass zu Eurem Einsatzgebiet auch die heißesten Regionen dieser Erde gehören. Bei den sengenden Temperaturen in Afrika könnt Ihr Euer dickes Fell nicht brauchen.” Bei diesen Worten breitete sich eine für Pferde typische Unruhe unter den Iquos aus. “Wie lange bist Du schon im Einsatz?” fragte Pana das Rentier. “Ich mache das jetzt im dritten Jahr, und da gehöre ich schon zu den erfahrenen. Die meisten überstehen das erste Jahr nur unter Qualen. Schaut Euch meine Schultern und meinen Rücken an. Jedes Jahr werden die Schlitten schwerer, weil die Kinder anspruchsvoller sind. Immer mehr und größere Geschenke. Die Riemen schneiden sich messerscharf in unsere Haut ein, aber wir erhalten diesbezüglich keine Anerkennung als Berufskrankheit, so ist das heutzutage.”

Jetzt mischte sich der Weihnachtsmann wieder ein: “Aber Jurma, nun erzähle doch, wie schön es ist, berühmt zu sein, all den vielen Kindern die Geschenke zu bringen, in ihre leuchtenden Augen zu schauen!” Jurma wandte sich wieder der Runde zu: “Ach, das passiert dann wohl nur in den unsäglichen Weihnachtsfilmen, für die unser guter alter Kamerad Rudolph herhalten muss. Schon mal etwas von Verbraucherschutz gehört? Umtauschrecht heißt das heute.” Die Hälfte von dem, was wir unter höchster Anstrengung bis in die letzten Winkel dieser Welt liefern, können wir nach dem Weihnachtsfest wieder abholen. Entweder waren die Wunschzettel veraltet oder die Kinder haben alles doppelt und dreifach bekommen”. “Aber im Sommer”, rief es aus der Runde, “da lasst Ihr es Euch doch so richtig gut gehen!” Jurma lächelte gequält. “Keine Arbeit, keine Bezahlung. Wer braucht, wenn die Bauern auf den Feldern, die Waldarbeiter in den Wäldern Arbeitstiere benötigen, wer braucht da uns ausgemergelte und kranke Gestalten. Ja, wenn wir Pferde wären, die von den Menschen das ganze Jahr über mit Futter, einem trockenen Stall und medizinischer Betreuung versorgt werden; das wäre eine feine Sache”. Jurma wirkte erschöpft. “Ich bitte Euch, lasst mich jetzt gehen. Ich möchte es den anderen erzählen, dass die Schinderei nun vorbei ist, jetzt, wo Ihr Pferde unsere Arbeit übernehmen wollt.”

“Halt”, riefen da mehrere der Iquos. “Wir haben uns getäuscht. Pana hat uns getäuscht.” “Was nutzt uns der Ruhm, wenn wir ihn nicht ausleben können, wenn wir Jungen nach kurzer Zeit so aussehen wie dieses alte Rentier?”, rief einer, “wir verlangen eine neue Abstimmung!” forderte ein anderer.

Natürlich endete diese Abstimmung, der sich auch Pana nicht widersetzen konnte, erwartungsgemäß deutlich. Die Iquos wollten Pferde bleiben und die Rentiere sollten das tun, was sie immer getan haben, den Schlitten des Weihnachtsmanns ziehen, schließlich seien sie ja dafür auch viel besser ausgerüstet.

Nachdem sich die Versammlung aufgelöst hatte, was außerordentlich schnell geschah, waren Jurma und der Weihnachtsmann alleine übrig. “Diesmal ist es gut gegangen”, sagte Jurma verschmitzt lächelnd. “Ich hoffe, ich habe nicht zu dick aufgetragen, oder?” Der Weihnachtsmann lachte leise. “Lass uns mit unserer Arbeit anfangen, auch Pferdekinder warten auf ihre Geschenke”.



Manege Medinger Paul-Banner


Amis du Cheval islandais

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