Rassetypisches Verhalten

Es ist in der Pferdeliteratur weit verbreitet, die vermuteten unterschiedlichen Pferdearten (polyphyletische Abstammungstheorie) als Typen und nicht als Arten zu bezeichnen, um direkte Widersprüche zur Abstammungsgeschichte zu vermeiden. Besondere Anerkennung sowohl in der populären als auch in der wissenschaftlichen Literatur fand dabei die Typenlehre nach Speed und Ebhardt (Ebhardt 1958). Die fossilen Reste, auf welche die Hypothese zurückgeht, sind jedoch nur selten an einem Fundort so zahlreich und altersmäßig vergleichbar, daß man daraus eine statistisch gesicherte Aussage treffen könnte.
Die beiden Forscher stellten anhand röntgenologischer Skelett- und Gebißvergleiche fest, daß der Knochenbau verschiedener fossiler Pferdeformen mit dem heutiger Pferde weitgehend übereinstimmt. Anhand ihrer Befunde differenzierten sie vier Pferde-Ur-Formen bzw. -Typen, die sich je nach Herkunftsgebiet in ihrem Erscheinungsbild und Verhalten unterschieden. Diese Aussage begründet sich auf Rückzüchtungsversuche, die ergaben, daß bestimmte Knochenmerkmale mit gewissen morphologischen und ethologischen Eigenheiten verbunden sind. Nach Speed und Ebhardt (Ebhardt 1958) sind diese vier Ur-Formen das Ausgangsmaterial für die verschiedenen Rassen unserer heutigen Hauspferde und bestimmen auch heute noch deren Wesensmerkmale.

Als die genannten Autoren ihre Ergebnisse interpretierten, befand sich die Genetik noch am Anfang. Man sah die erblichen Merkmale, die eine Rasse ausmachen, noch als ein für alle Mal festgeschrieben an und wußte noch nicht, wie schnell sich in einer Population Merkmale bei hohem Selektionsdruck ändern können. Als Beispiel für die schnelle Wandelbarkeit von Pferden zu einer bestimmten Rasse sei das Englische Vollblut genannt. Es entstand durch strengste Selektion in nur 200 Jahren. Genauso schnell kann eine Rasse, auch eine Unterart wieder vergehen. Zur Zeit von Speed und Ebhardt realisierte man noch nicht, wie bedeutend die Fluktuation von Genen in lebenden Populationen ist. Gerade das hat sich aber in der Forschung seit den 60er Jahren immer deutlicher herausgestellt.

Es ist somit wahrscheinlicher, daß das Erscheinungsbild und das Verhalten unserer heutigen Hauspferde weniger von den verschiedenen Wildpferdeformen, die während der Eiszeit lebten, als vielmehr von den züchterischen Maßnahmen des Menschen in den vergangenen Jahrhunderten beeinflußt wird. Dabei bleibt unbenommen, daß die Basis der Zucht die ehemals vorhandenen Landrassen bzw. nach Nobis (1997) die drei Unterarten des Equus ferus waren. Diese geographischen Rassen verfügten über eine hohe genetische Varianz und waren den Bedingungen ihres Ursprungslandes bestens angepaßt. Darauf aufbauend entstanden im Laufe der Zeit durch gezielte Selektion gemäß der wirtschaftlichen Bedürfnisse und Liebhabereien des Menschen die verschiedenen Kulturrassen. Diese lassen sich durch bestimmte Merkmale wie Exterieur, Leistungseigenschaften, Verhalten usw. voneinander abgrenzen. Einige dieser Rassen kann man zu Gruppen mit ähnlichen morphologischen und ethologischen Merkmalen zusammenfassen, was in den gebräuchlichen Bezeichnungen Pony, Kalt-, Warm- und Vollblut zum Ausdruck kommt. Diese korrelieren in gewissem Maße mit den von Speed und Ebhardt angeführten Urformen des Pony-, Kaltblut-, Steppenpferd und Arabertypus. Unabhängig von der zweifelhaften Abstammungstheorie der Urformen, stimmen die genannten Gruppierungen mit den Beobachtungen von Speed und Ebhardt an rezenten Rassen überein.

Ponys

Typisch für echte Ponys sind runde Formen, eine große Kruppenbreite in Relation zur Widerristhöhe, üppige Mähnen- und Schweifbehaarung, gerades Nasenprofil, breite Stirn, kurze Ohren und die Tendenz zur Kleinwüchsigkeit. Die meisten von ihnen wie Island-, Shetland- und Exmoorponys zeichnen sich durch große Geselligkeit und gute Verträglichkeit auch bei einer größeren Anzahl von Tieren aus. Sie eignen sich im allgemeinen gut für die Gruppenhaltung bzw. für den Offenlaufstall. Ihre Kältetoleranz ist seht gut, da sie im Winter eine dichte Unterwolle ausbilden. Das derbe, Regenwasser ableitende Deckhaar schützt sie zusätzlich bis zu einem gewissen Grad vor Nässe. Viele Ponys sind gute Futterverwerter und neigen auf nährstoffreichen Weiden zum Verfetten. Im Umgang sind sie in der Regel aufmerksam, lebhaft, sehr lernfähig und nervenstark. Hervorzuheben ist ihre große Ausdauer. Durch ihr kompaktes, abgerundetes Gebäude, den muskulösen, hoch aufgesetzten Hals sowie die kurzen Gliedmaßen bieten sie das Bild eines kräftigen kleinen Reitpferdes. Problematisch ist allerdings die Tendenz zur Ausbildung eines flachen Widerrists (instabile Sattellage). Außerdem erschwert die oftmals starke Unterhalsausbildung gepaart mit geringer Ganaschenfreiheit die dressurmäßige Beizäumung. Nachteilig kann sich auch ihr starker Herdentrieb auswirken. Ponys neigen besonders gerne zum Kleben. Auf harte Behandlungsmethoden reagieren sie oft auch aggressiv.

Kaltblüter

Das Exterieur des Kaltblüters spiegelt seinen ursprünglichen Verwendungszweck als starkes Trag- und Zugtier wieder. Charakteristisch für ihn sind massiger Körperbau, gespaltene Kruppe, schwerer grober Kopf, kleine Augen, schmale Stirn und Ramsnase. Für den Einsatz im Reitsport ist der klassische Typ mit dem tief angesetzten Hals und engen Ganaschen weniger geeignet. Dafür sind sie ausgesprochen trittsicher im schwierigen Gelände. Kaltblüter zeichnen sich im allgemeinen durch Gelassenheit und Gutmütigkeit aus. Ihr Bewegungsbedürfnis ist eher gering. Im Umgang sind sie meist berechenbar und tendieren dazu, phlegmatisch bis stur zu sein. Sie lernen langsam, wenn sie aber eine Lektion begriffen haben, behalten sie diese auf Dauer im Gedächtnis. Probleme mit Kaltblütern resultieren häufig aus mangelnder Menschbezogenheit bzw. fehlendem Respekt vor dem Menschen, gepaart mit Sturheit und geringer Bewegungslust. Sie sind gut für die Gruppenhaltung geeignet. Allerdings sollte die Gruppenzusammensetzung stabil bleiben und die Anzahl der Tiere nicht zu groß sein, da Kaltblüter ansonsten zu heftigen Auseinandersetzungen neigen.

Warm- und Vollblüter

Warm- und Vollblüter sind größer gebaut als Ponys und leichter als Kaltblüter. Ihre Behaarung ist im Sommer kurz und fein, im Winter bilden sie relativ wenig Unterwolle aus. Dennoch können sie bei ausreichend energiereicher Fütterung und einem vor Durchnässung schützenden Unterstand auch im Winter bei Außentemperaturen gehalten werden. Zuchtziel von Warm- und Vollblütern war von jeher die Reiteignung und Leistungsfähigkeit (Schnelligkeit, Ausdauer, Springvermögen usw.). Insbesondere veredelte Warmblüter und Vollblüter haben daher ein hohes Bewegungsbedürfnis. Aus diesem Grund benötigen sie neben der täglichen Arbeit mehrstündigen Auslauf. Derart hoch im Blut stehende Pferde neigen in vermehrtem Maße zu Übererregbarkeit. Sie sind deshalb für Verhaltensstörungen besonders disponiert. Bei der traditionellen Boxenhaltung fallen sie überdurchschnittlich oft durch teils aggressive oder Aufmerksamkeit fordernde Verhaltensweisen wie Schlagen gegen die Boxenwand, Beißen gegen Gitterstäbe usw. auf. Manche Warm- und Vollblüter haben auch eine auffallend große Individualdistanz und zeigen eine relativ hohe innerartliche Aggressivität. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, daß soziale Verträglichkeit zu keiner Zeit ein Zuchtkriterium in unserer Reit- und Rennpferdezucht war. Zudem werden sie bereits seit Generationen überwiegend in Einzelhaltung gehalten, wo die Konditionierung sozialer Verhaltensweisen nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Eine Sonderform ist der Arabische Vollblüter. Er ist durch einen besonders zierlichen Körperbau mit schmaler Kruppe, einem fein ausgebildteten, kurzen Kopf mit konkavem Nasenprofil sowie kleine Ohren, große Augen und Nüstern gekennzeichnet. Typisch ist weiterhin die hohe Kopf-Hals-Haltung. Araber haben von allen Pferderassen das höchste Bewegungsbedürfnis, gepaart mit großer Reaktionsschnelle. Charakteristisch für sie ist ihre außerordentliche Sensibilität und leichte Erregbarkeit, wobei der Fluchtreflex schnell ausgelöst werden kann. Deshalb neigen sie bei furchteinflößenden Situationen auch häufig zu panikartigen Reaktionen. Sie sind allerdings sehr menschbezogen. Aus diesem Grund kann bei richtiger Behandlung, basierend auf vertrauensbildenden Maßnahmen, ihre Übererregbarkeit in ruhige und zuverlässige Bahnen gelenkt werden. Araber weisen sich durch eine gute soziale Verträglichkeit aus. Sie sind kontaktfreudig und sehr umgänglich, so daß sie für Gruppenhaltung gut geeignet sind. Bei Haltungsfehlerrn zeigen sie eine besondere Neigung zu Bewegungsstereotypien wie Weben und Boxenlaufen.

Auszug aus: Handbuch Pferdeverhalten, Ursache, Therapie und Prophylaxe von Problemverhalten (Ulmer-Verlag). Autorin ist Margit H. Zeitler-Feicht.

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